Kylie

Paul Kranzler
KYLIE BRITNEY
CHRISTINA PAMELA
PINK

Als Beilage erscheint das Magazin/includes magazine SYNDICATE18

Sprache: dt. engl. / Ger. Eng.
Format: 30,5 x 24 cm / 41,5 × 30 cm
ISBN: 978-3-902993-38-0
Preis: 39,– Euro

Fotohof edition, Bd./vol. 238
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KYLIE BRITNEY CHRISTINA PAMELA PINK

Pillen, Tabletten, leichte Zigaretten, Papers, Nagellack, Buch, Kugelschreiber, Aschenbecher, Pflaster, Glas, Automatenfotos, Shampoo, leere Tassen, eingetrocknete Tassen, eingetrocknete Momente, sind Fotos so etwas wie eingetrocknete Momente, die Feuchtigkeit hat sich verflüchtigt, wenn wir mit Feuchtigkeit das Lebendige verbinden, selbst wenn auf dem Foto alles voll Wasser wäre, irgendwie wäre es eingetrocknet, weil es auf Papier ist, weil Papier trocken ist, weil Erinnerung eine trockene Angelegenheit ist, ein theoretisches Manöver, eine Verzerrung, jedes Foto ist ein Betrug, weil es die flüchtige Existenz der Gegenwart als etwas darstellt, das wiederholt werden könnte und dadurch der Anschein erweckt wird, dass damit eine Gelegenheit geschaffen wird um besser zu verstehen, was längst vorbei ist. Was nur im Moment so war. Vergleiche alles mit allem anderen. Es gibt nur Unterschiede. Die Ähnlichkeiten täuschen. Niemand ist sich sicher am sichersten. Sicher nicht.

Weiß nicht ob ich gutaussehend bin. In der Zeitung steht: Die schöne Frau. Wenn einem Macho-Redakteur eine Frau gefällt, dann schreibt er: Schön. Schön. Was ist schön? Was ist das schon? Für jeden ist etwas anderes schön. Also bin ich schön. Ich will aber nicht schön sein. Also schön in dem Sinn, dass es hier einen Standard gibt, der vorgibt, was es heißt, schön zu sein. Das nervt mich. Es gibt so viele Leute, die irgendwie aussehen. Wenn die sich alle darüber definieren müssten, ob sie schön sind im Sinn des Standardschöns, die würden alle scheitern. Sind aber trotzdem schön. Weil sich jeder auf seine Weise definiert. Ich will mich auch auf meine Weise definieren. Alle sollen sich doch auf ihre Weise definieren. Diese Schauspielerinnen, diese Sängerinnen, diese Stars, die es vorgeben, die sich an den Standard so toll anpassen, dass sie selbst zum Standard geworden sind, weißt du welche Bedeutung die für mich haben? Ich kann es dir sagen: Keine. Keine. Keine. Im Hinterkopf aber doch. Blöder Hinterkopf. Ich drehe jetzt wieder am Knopf.

Da Voda hod gsogd: I soi ned rauchn. Rauchn soid i ned. Wos soid i sunst ned ois nu ned duan? Sauffm, kiffm, ned in da Frua hamkuma, ka Kind griang jetzt, ned frech sei, ned deppad sei. I kunnt so vü deppad sei. I waa aum liabstn dauernd deppad. Ned voi deppad. Owa so deppad, dass i den Rest rundumadum aushoidn kunnt. Weu waun i goa nimma deppad sei kunnt, i wissad ned wia i des aushoidn kunnt, den Rest, oiso des gaunze Rundumadum. Die Schui, die Lehrer, die Ötan, des Fernsehprogramm, des gaunze Informationsprogramm, des gaunze Programm, des Leben kumt ma jo oft vor wie a Programm und kana waas mehr, wer des waun programmiert hod des Programm und warum es so is wias is des Programm. I waas ned ob des jemaund nu waas. Jedenfois is des Programm auf jedn Foi aso, dass es ned zum aushoidn waa, wann i ned deppad sei kunnt. Deppad sei haast in dem Foi: Afoch ned programmkonform. Afoch so, wias für mi passt. So wia jetzt. I steh aum See und rauch a Tschick und es passt für mi.

Dieser Busstop ist so leer, nicht einmal ein kleines Bushäuschen hat hier Platz gefunden, gar nichts hat hier Platz gefunden, nur der Platz, nur der Mast wurde hier in die einsame Erde gesteckt mit einem blechernen Fähnchen obendrauf mit einem groß geschriebenen H in einem Kreis, H wie Halt, hier ist Halt, wenn auch nur ein Halt auf Verlangen, dh. nur wenn irgendjemand von den Fahrgästen zum Fahrer nach vorne ruft: Halt! dann bleibt der Fahrer stehen, dann bleibt der Bus stehen, dann kommt es zu einer temporären architektonischen Änderung, dann verstellt hier für drei Minuten der Bus die Aussicht, dann fährt er weiter und in der leeren Landschaft steht eine alte Frau, die aus der Stadt zurückgekommen ist, wo sie auf der Bezirkshauptmannschaft ihre uralte Geburtsurkunde hergezeigt hat wegen der Pension und es ist alles gut gegangen und jetzt steht sie hier inmitten der Wiese und ist müde. Aber es ist alles gut gegangen. Sie hat in der Stadt auch noch ihre Schwiegertochter gesehen, aber nur kurz, sie verstehen sich nicht. Sie nahm den nächsten Bus, den Bus hierher, in die Wiese. Die Wiese, die von diesem grauen Asphaltstreifen durchschnitten ist seit den 60er Jahren. Auf dem in den warmen Himmel ragenden Metallrohr war außer dem Fähnchen mit dem großen H noch eine Tafel angebracht, auf der die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Busse abzulesen waren. Sie las. Sie wollte wissen, wann es wieder weitergehen könnte, um welche Uhrzeit. Vielleicht verstehen wir uns beim nächsten Mal ja besser.

Wir haben die Helme, die Uniformen, die Startnummern, wir sind beim Bezirksfeuerwehrbewerb, wir wollen zum Landesfeuerwehrfest, da kommen alle zusammen, wir haben Fabriken brennen gesehen, wir haben die Leute beim Hochwasser von ihren Dächern abgeholt mit unseren Booten, wir sind noch klein, wir sind noch jung, aber je höher das Hochwasser steigen wird, umso höher werden auch wir steigen, werden sie beim nächsten Mal mit Helikoptern von den Dächern holen, mit Seilwinden, mit Tragekörben, mit allem, was wir haben und wir haben alles, um Katastrophen bewältigen zu können, deshalb sind wir bei der Feuerwehr, wir sind die Feuerwehr, wir sind die Rettung in der Not und wenn es mal heftig brennt und es kommt zufällig ein Hochwasser und überschwemmt das brennende Gebäude, dann werden wir dastehen, so wie jetzt, und werden den Rauch beobachten, der aufsteigt, wenn ein großes Feuer von großen Wassermassen gelöscht wird. We are heroes.

Wenn Häuser reden könnten, also wenn diese Häuser hier reden könnten, sie würden nicht viel sagen, sie, die immer am selben Platz stehen müssen, so wie alle anderen Häuser auch, sie können nicht weg, sie können nur die Häuser sehen, die neben ihnen stehen, sie wissen nicht einmal, wie es hinter dem nächsten Hügel aussieht, sie sehen immer nur die Häuser und die Landschaft, die ihnen vorgesetzt wurden und damit müssen sie auskommen, die gesamte Zeitspanne ihrer Existenz müssen sie mit ihrer kleinen Umgebung auskommen. Und natürlich mit ihren Bewohnern. Jeden Tag dieselben. Familien. Einzelgänger. Kinder. Nachbarinnen, Nachbarn, Verwandte manchmal, Besuch, Gesprächstöne, Streittöne, Gestöhne, Schnarchen, Untertöne, TV – Geräusche, Computerspielgeräusche, Waschmaschinenwaschgeräusche, Musik, alles. Als wohltuend empfinden sie, die Häuser, die gelegentlichen Gewitter, den Donner, den Regen, der auf sie herunterprasselt nach einem heißen Tag, das Wasser, das über die Dachziegel läuft, die Abkühlung, erfrischend. Am nächsten Morgen aber ist alles wieder wie am Morgen zuvor und sie sehen auf die Wiese im Bildvordergrund, die wächst und gemäht wird und wieder wächst und wieder gemäht wird wie seit vielen Jahren schon. Auch gut. Und wenn sie reden könnten. Sie würden nicht viel sagen.

Es ist brutal. In Stein gemeißelt. Tote Soldaten. Viele von ihnen erst 18 Jahre alt. Was sollte das werden? Vor hundert Jahren. Erster Weltkrieg. Insgesamt 17 Millionen Tote, 9,2 Millionen Soldaten, 7,8 Millionen Zivilistinnen. Was sollte dabei herauskommen? In den Schützengräben türmten sich die Leichenberge. Aus unserem Ort waren auch 30 Burschen dabei, die nicht mehr zurückkamen. Wozu diese Opfer, wozu diese Gewalt? Frage ich mich. Warum die Dinge so laufen wie sie es tun? Obwohl alle, die ich treffe, sagen: Es läuft falsch. Machen doch alle mit. Und sei es noch so vertrottelt. Siehe erster Weltkrieg. Siehe zweiter Weltkrieg. Zum Glück ist es nicht so weitergegangen. Sonst würden hier auf dem Friedhof noch fünf oder sechs weitere Kriegsdenkmäler stehen. Für Weltkrieg 3, Weltkrieg 4 und so weiter. Sie haben aufgehört mit den Kriegen, weil niemand hier noch mehr Kriegsskulpturen mit eingemeißelten toten Nachbarn haben wollte. Also doch ein Fortschritt. Zumindest so weit bis hierher. Wir haben im Ort dreißig Flüchtlinge, die vor dem aktuellen Krieg in Syrien hierher geflohen sind. Ich gehe jetzt und helfe ihnen mit der Sprache. Es hört nicht auf.

Die hügelige Landschaft sieht aus als hätten hier irgendwann riesige Wellen beschlossen, einfach stehen zu bleiben, aufzuhören sich zu bewegen, sie hatten keine Lust mehr, dem physikalischen Lauf der Dinge Folge zu leisten, immer hatten sie hin und her gewogt, einmal heftiger, dann wieder weniger heftig, wenn Sturm aufkam, konnten sie zu monströsen Bergen anwachsen, Bewegung war ihre Grundform. Jetzt aber standen sie still. Und im Lauf der Zeit, im Zuge der natürlichen Abfolge der Dinge, wie es heißt, wurden die erstarrten Wellenberge von Gras bewachsen, von Bäumen, sie wurden später von Menschen kultiviert, wie schön, die Kultur, und wie ein Echo aus der fernen Vergangenheit, in der sie noch aus Wasser bestanden hatten, zeigte sich zwischen ihnen der Nebel, die Flüssigkeit  in ihrer luftigen Form und füllte die Gräben im Hintergrund aus und wer genau hinsah konnte Schiffe entdecken, die über die Wellen segelten, winzige Schiffe. Der gleichbleibende Himmel sah zu.

Kurt Cobain, der hat es so gesagt wie ich es sagen würde wenn ich es sagen könnte, aber das werde ich nie können, ich bin ja auch kein Sänger oder Musiker, ich bin nur fasziniert von Nirvana, nach wie vor, auch wenn das jetzt schon so lange her ist, 1995 war das, als Cobain gestorben ist, es ist dieser Sound nach wie vor aber so fresh, so mega, so geilo, ich höre es gern, ich stehe hier am Rand des Feldes, der Wind bewegt jeden einzelnen Halm, irgendwie kommt mir vor: Alles ist so weit weg, also auch Nirvana, Seattle, Syrien, meine Eltern. Auch die kommen mir manchmal so weit weg vor, so weit weg von mir und dem, was mir wichtig ist. Aber gut, ich stehe hier, beim Feld, in meinem Umfeld, es passt schon. Muss aber jetzt weg, zurück zu meinen Freunden. Bei denen läuft schon wieder Nirvana.

Du wirst hineinfallen, du hast nicht die Kraft, dein Hineinfallen zu verhindern, du wirst schon sehen, du wirst ins Wasser plumpsen wie eine dicke Pflaume, wie ein Stein, mit einem großen Platsch wirst du hineinstürzen und ich werde lachen, werde trockenen Fußes am Steg tänzeln und dich im Wasser zappeln sehen. Ich bin stärker als du, ich werde dich hineinwerfen, was soll das Gerangel, du wirst fallen, du hast keine Chance, du kannst dich wehren, dich sträuben, einen Buckel machen wie eine zornige Katze, du kannst schreien, du kannst weinen, du kannst brüllen, flehen, winseln, es wird dir nicht helfen, du wirst ins Wasser fallen, jetzt gleich wirst du fallen. Aber! Mist! Warum liege jetzt ich im Wasser? Ich? Er war doch stärker, wendiger, besser. Alles Quatsch gewesen. Ich gebe mich geschlagen. Kurz. Nächste Runde bitte!

Das Licht ist wie weißer Schmutz. Als ob Licht etwas Besseres wäre. Dabei ist es nur heller als das Dunkle. Und wer kann schon mit Gewissheit sagen, ob die Helligkeit positiver ist als die Dunkelheit. Religiöse Frage. Kulturelle Frage. Der weiße Schmutz entstand durch den Blitz. Der Blitz entstand, weil es zu dunkel war, um ein sichtbares Ereignis hinzukriegen. Also hat sich doch das Licht durchgesetzt. Und überstrahlt das Gesehene. Wobei das Gesehene auch nichts anderes ist als eine Illusion. Jeder Blick in einen Spiegel ist ein Illusionstransfer. Du siehst nur, was du sehen willst, kannst, musst. Die Augen hier, die Augen hinter dem weißen, hellen Flash, sie spiegeln genau das wider, nämlich die Erwartung, dass der Spiegel etwas über den, der sich selbst darin betrachtet, sagen könnte. Und es kommen doch nur die eigenen Gedanken zurück. Das Spieglein an der Wand ist taub und stumm wie ein Felsen. Alles ist erfunden. Auch die Gedanken über sich selbst. Der Spiegel zeigt es dir.