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Literatur mit Punk-Gesinnung
Markus Binder experimentiert in seinem Buch „Tempoänderungen“ mit dem Potential der „kleinen Form“.
Wer tolle Songtexte zu schreiben vermag, ist noch lange kein guter Prosaautor, Literaturnobelpreis für Bob Dylan hin oder her. Unter den schreibenden österreichischen Musikern sticht Markus Binder – mit Hans-Peter Falkner eine Hälfte des Duos Attwenger – jedoch in mancher Hinsicht heraus.
Er debütierte 2005 mit „Testsiegerstraße“, einem Sammelsurium kurzer Texte aller Art, die allenfalls assoziativ miteinander verbunden sind. Der Nachfolger, „Teilzeitrevue“ (2017), blieb dem Prinzip treu, keinen Plot zu erzählen, wenngleich diesmal Umrisse einer Handlung durchaus erkennbar wurden: Ein Paar fährt in eine große Stadt und durchstreift dort das Nachtleben.
Das Buch ist dennoch primär eine Aneinanderreihung von Reflexionen, Denkbildern, Dialogfetzen und Wahrnehmungssplittern, worunter sich immer wieder auch Songtexte mischen. Diese hat Binder selber vertont und unter dem Titel „Teilzeitrevuesongs“ veröffentlicht: Zehn kurze Stücke, die Begleitmusik und Soundtrack zum Buch ergeben.
Markus Binder
Tempoänderungen
Verbrecher Verlag, Berlin 2023, 261 Seiten, 19,60 Euro.
© Verbrecherverlag
Auch der eben erschienene Band „Tempoänderungen“ enthält eine Reihe von Texten, die als Songtexte taugen könnten, einer potentiellen Vertonung allerdings noch harren. Was den Schriftsteller Markus Binder mithin auszeichnet, ist der Wille, die Wiederholung von Früherem zu vermeiden: Er setzt mehr auf Experiment als Erfolgsrezept.
Dementsprechend gibt er mit dem dritten Buch seinem Schreiben erneut eine andere Richtung: „Tempoänderungen“ versammelt, in sieben Abteilungen mit unterschiedlichen Präsentationsformen, kurze und kürzeste Texte aller Art. Im Rückgriff auf den Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg ist man fast versucht, den schönen Begriff „Sudelbuch“ darauf anzuwenden.
Denn selbst wenn Binder wohl keine diesbezüglichen Ambitionen hegt, so fügt sich „Tempoänderungen“ in eine literarhistorische Genealogie, die von den „Aphorismen“ des François de La Rochefoucauld oder den „Gedanken“ von Blaise Pascal bis zur „kleinen Literatur“ eines Franz Kafka oder den Miniaturaufzeichnungen von Robert Walser reichen, die ätzenden Reflexionen von Emil Cioran nicht vergessend.
Zeichnete sich früher eben noch eine Art von Plot ab, so ist „Tempoänderungen“ komplett zersplittert in Formen wie Skizze, Notiz, Aphorismus, Sentenz, Gedicht, Notat, Songtext, Maxime und manches mehr. Beobachtungen aus dem urbanen Alltag treffen auf „Grazer Sprachspiele“ und ergeben, mit Bernhard’schem Sarkasmus gewürzt, eine durchaus spezifisch österreichische Melange, denn den Band durchzieht als Grundton eine beißende Satire Kraus’scher Art.
An quasi jeder Ecke lauert eine Überraschung, ein literarischer Tempowechsel: Wiener Hinterfotzigkeit geht über in scharfe Kritik an den Aberrationen der Gegenwartsdigitalkultur, die auf lehrhafte Geschichten in der Tradition der Brecht’schen Didaktik trifft. All dies jedoch ohne akademisch-gelehrte Zurschaustellung von Bildungsballast, sondern vielmehr als spielerische Übung, bei der auch schwarzer Humor und böse Komik nicht zu kurz kommen. Denn die „kleine Form“, wie jeder Germanist weiß, ist per se ein Protest gegen das kulturelle Monument und das Prinzip der Hegemonie.
So wie Attwenger im Feld der Musik das Widerständige des Punk mit dem subversiven Geist der Volksmusik kurzgeschlossen haben, so repräsentiert „Tempoänderungen“ eine Literatur aus dem Geiste des Punk, die dem Vorläufigen, Flüchtigen, Unfertigen sein Recht einräumt. Man könnte freilich auch sagen: Binder ist ein cooler Autor, der ein geiles Buch geschrieben hat.
Wiener Zeitung, Uwe Schütte 13.2.2023