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Es zerreißt die Welt in große Kleinigkeiten
Markus Binder, die Hälfte von Attwenger, erweist sich als Buchautor
als wortmächtiger Meister, der feinsinnig die Welt einfängt.
Markus Binder spielt mit Worten und Buchstaben ein Spiel, das er auch mit Tönen und Sounds beherrscht. Binder bildet mit Hans-Peter Falkner seit 33 Jahren das Duo Attwenger. Keinesfalls nebenbei, aber weniger bemerkt, veröffentlicht Binder auch Bücher. Das neue heißt „Tempoänderungen“. Binder war 2005 mit „Testsiegerstraße“ erstmals als Buchautor aufgetaucht. Schon damals arbeitete er mit kleinen Formen, meist Prosa, selten auch lyrisch und manchmal gereimt als Art Gedichte in fünf oder sechs Zeilen. Was beim Debüt keinen Rahmen hatte, bekam beim zweiten Buch „Teilzeitrevue“ einen losen Zusammenhang. Da schickte er zwei los –wohl in dieNacht –, die dann aber auch bloß Statisten bleiben in dem,was sie umgibt und was Binder schreibend erkundet. Eine
Geschichte, ein Plot war das nicht. Dem Prinzip, mit kurzen Betrachtungen eine ganze Welt zu sehen, bleibt Binder auch bei „Tempoänderungen“ treu.
Binder trommelt, maultrommelt, programmiert und textet als Hälfte des Dialekt-Punk-Duos. Attwenger gehören wegen der Verbindung aus Tradition und Moderne, Gstanzl und Techno, wegen des Verschmelzens von Wort und Sound zum
wichtigsten zeitgenössischen Kulturgut dieses Landes. Weil er all das auch in seiner Literatur umsetzt – stets mit der auch Attwenger eigenen Punk-Haltung und einemdeutlichen Bekenntnis dazu, wie die richtige Form den Inhalt befördern kann –, gehört sein neues Buch zu den aufregenden Büchern in diesem Frühjahr. Das liegt daran, dass Binder es schier locker schafft, in
kurzen, pointierten Texten die nächste Umgebung auszuloten und damit die ganzeWelt einzufangen. Einst reagierte das Duo Attwenger etwamit den Alben „flux“ (2011) und „spot“ (2015) auf eine um sich greifende Klick-und-weg-Welt, auf
die vor allem durch das Internet provozierte immer kürzere Aufmerksamkeitsspanne.
Da kommst du mit einem ausufernden Soundgeflecht nicht weit, da mussten knappe Songs reinhauen. So macht es der 59-jährige Binder auch in seinen Buchtexten. Sie variieren bei „Tempoänderungen“ in der Länge – auch wenn keiner der Texte richtig lang ist. Eineinhalb Seiten sind dann schon eine Ewigkeit. Durch die Variation in Thema und Länge und Stil erzeugt Binder beim Lesen eine feine Dynamik. Gleich ist den Texten, egal obAphorismus, kurze Notiz, Gedicht oder Kürzestgeschichte, dass siemitten imLeben spielen. Es geht umsWarten auf den Bus, um Gehsteige und Nachbarn. Es geht um Spielzeugsets. Es geht um Geister, die unerwartet auftauchen. Mehr als bei den beiden Vorgängerbüchern aber verweist der Titel auch gleich auf die Form. Es wird das Rasen undWüten einer Welt am Rand des kapitalistischen Kollapses ebenso eingefangen wie manch sanfter Moment.
Es wird beschleunigt und gebremst. Es wird getrommelt, aber auch gestreichelt. Die Sprache nutzt Binder zu einer intensiven Auseinandersetzung mit derWelt. Sie taugt ihm als Material zum Umgang, vielleicht gar zumErfassen (oder Ertragen) der Umgebung. Diesen Beobachtungen liegt ein grundsätzlich skeptischer Blick auf die Welt zugrunde.
Bernhard Flieher, 22.3.2023